Sophia de Mello Breyner Andresen photographed by Eduardo Gageiro
.
In one of the poems of No Tempo Dividido, Sophia de Mello Breyner Andresen writes, in the manner of an inscription: “Que no largo mar azul se perca o vento / E nossa seja a nossa própria imagem” — “That in the wide blue sea the wind be lost / And ours be our own image.”
The pelagic world was for the poet, as is commonly known, a demiurgic, almost religious space, from which emerged her creative force, her fascination with ancient time (which was equally her fascination with the inscrutable future), but also her most personal delight in the peoples who, having sailed those seas of a remote past (the Greeks, in particular), bequeathed to us their art, their beauty, their nude, and within them (as in Heidegger’s ontology) our destiny.
Sophia’s poems are, without exception, exercises in incomparable lapidary art. We read them today under the relative oblivion to which every work is consigned after the death of its author. Yet for this very reason we rediscover them as more vehement, more marvellously sculpted, more true. We read them as an extension of ourselves, as though seated on a garden bench among the twisted trunks of giant trees (like these metrosideros in Foz do Douro), the wide blue sea before us seemed more real, and our own spirit wandered amid those waves and the scent of the sea breeze, while between the seated body and the wandering spirit there existed something unnameable. Something like our own image, doubly beheld in the mirror.
João Ricardo Lopes ist ein portugiesischer Dichter und Schriftsteller, geboren 1977 in Azurém, im Kreis Guimarães. Sein literarisches Werk umfasst mehrere Bände mit Gedichten, Erzählungen und Chroniken, in denen Themen wie Erinnerung, kindliche Liebe, die Suche nach Stille und innerem Frieden, die Aufwertung kleiner Alltagsgesten sowie eine ständige Reflexion über die Rolle der Kunst und die zerstörerisch-schöpferische Ambivalenz des Menschen besondere Bedeutung haben.
Häufig zitiert er andere Autoren oder tritt mit Malerei, Musik, Kino und Fotografie in einen poetischen Dialog. Seine Kindheit auf dem Bauernhof der mütterlichen Großeltern dient als Leitmotiv seiner Werke, in denen auch seine klassische Ausbildung in Latein und Altgriechisch, seine Liebe zum Journalismus und eine ironische Rückkehr zu historischen Figuren und Epochen ihren Platz finden.
Ein scheuer Autor, der Interviews und öffentliche Auftritte meidet, wurde Lopes mit dem Ary dos Santos Poesie-Förderpreis (2001), dem Maria Irene Lisboa Kurzgeschichtenpreis (2009) und dem Nationalen Poesiepreis der Stadt Fânzeres (2001 und 2022) ausgezeichnet. Seine Bücher, vor allem seine Gedichte, wurden bereits ins Englische, Französische, Spanische, Italienische, Serbokroatische und Armenische übersetzt.
•
EUTRAPELIA
wenn die Tage zu schwer, zu gleichförmig, zu grausam werden, kannst du dich vielleicht erinnern an die herrliche gelbe Kanne, die jedes Jahr neu erblüht im dunkelsten Winkel des Gartens, oder an Epikurs weise Worte, oder an die heiligen Worte des Augustinus, und Schönheit auf andere Weise lieben, oder sie jenseits von Form, Farbe und Alltagsverstand erkennen, sie nicht mehr nach Intensität und Spektakel zu messen, sondern nach dem Guten, das sie dir tut
•
BACH, BITTE!
ich vergesse alles, die klare Angst vor Unreinheiten, vor Schuld, vor Unglücken, vor Reisen, die nie stattfanden, vor flüchtigen Vögeln und Liebschaften, vor dem dunklen Gesicht, das mich im Spiegel verfolgt, vor träumelosen Tagen
mein Herz schrumpft. Bach, bitte!
•
ODYSSEE
(RÜCKKEHR DES ODYSSEUS, DES NARREN)
meine Alte, du hättest nicht so lange warten sollen. ich habe vom Meer diese Blindheit des Tangs und Prostatakrebs mitgebracht, ich habe die Asche mitgebracht, die Nymphen und Sirenen (und die schwarze Spinne von Ogygia) in mir angezündet haben
ich reiste durch all die Betten, die das Mittelmeer umsäumen und weder du noch ich sind schuld oder zu retten
Telemach, noch ein Kind, und doch schon so stark
der Bogen, der mich in die Tiefe schleudert, ist gealtert, an Klippen voller Bussarde und magerer Oliven
unten ist es der Schaum, der mich tötet. habe ich dir gesagt, dass ich sterben will?
so bleib und web weiter, nutzlose Königin! aus Klippen ist das Leben gemacht, zwanzig Jahre Glut nagen bis auf den Knochen und dann – nichts mehr, nur Krankheit, nur diese nackte Insel, nur Erinnerung, die fliegt und fliegt, bis sie versinkt oder jemand aus ihr ein Epos macht, und lügt, lügt, lügt
.
(PENELOPE AN ODYSSEUS)
ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob ich dich liebe: vielleicht liebe ich dich wie die Zicklein, so harmlos zuerst – und dann nicht mehr. vielleicht begehre ich dich im selben Kerker
du steigst mit deinem alten Glöckchen den Hang hinab, ich spüre dich nahen (jetzt demütig, damals nicht), und ich streichle dir den Rücken, zähle die Tage, die noch fehlen (meine Rache, dieser unbestimmte Blitz einer Frau, die ich bin bis ins Innerste), um dir zuzulächeln und dir das Messer in den Nacken zu rammen
•
KIRSCHEN
aus dieser Frucht zieht man Erinnerung an Feuer und Frost, an schleppende Worte und wehklagende Seufzer durch das Haus
meine Großmutter mütterlicherseits wählte die rötesten aus, und ich aß sie mit Maisbrot, sie sagte, das Blut der Kirschen heilt den Schmerz der Alten und legt den Jungen die Traurigkeit ins Herz, weil ihr Fleisch so ungewiss ist wie die Rechnung der Liebe
ich konnte Kirschen nie mögen. wie mit dem Aberglauben, fur den es keinen Bannspruch gibt
ich sehe die Vögel die Bäume stürmen und sie hastig in die Lüfte tragen. vielleicht ist das etwas für Seelen, ich beneide sie nicht um ihre Lust
das Blut, das ihre Schnäbel färbt, scheint mir ein böses Omen: ich weiß – ich weiß nicht wie, aber ich weiß – sie werden bald sterben
•
DIE GERBERA
auch die Gerbera erweitern den Raum und vertiefen ihn, sie gehorchen nichts als dem Kreis und sich selbst. und deshalb sind sie frei und sorgsam. und deshalb von derselben wundersamen Natur wie Honig, wie das Gedicht, oder wie das Blau. ich wollte über das Schweigen schreiben, aber das wisst ihr ja schon
•
KARNEVAL UND FASTENZEIT, NACH BRUEGEL
nehmen wir an, das Leben treibt uns mal nach rechts, mal nach links in diesem Bild von Bruegel, zwingt uns einmal zur strengen Trauer, ein anderes Mal zwingen wir sie zur absurden Anbetung des Lachens
sing, mein Sohn, sing hast du gesagt am Eingang des Vordachs und auch, dass die Apostel der Melancholie unter den Sündern die fanatischsten und furchtbarsten Verdunkler der Sonne sind
•
Übersetzung, Auswahl und Biografie von Anne-Marie Treichel